(Fast) alle, die im eidgenössischen Gastgewerbe aktiv sind, wissen es: Ein Hotel ist niemals nur ein Haus mit Betten, wo (mehr oder weniger) geschlafen, geträumt, geliebt und geschnarcht wird. Es ist ein Theater mit Frühstücksbuffet, eine Oper mit WLAN, eine Bühne mit Zimmerservice. Gäste treten ein und glauben, sie hätten gebucht – in Wahrheit haben sie eine Rolle übernommen. Die Mitarbeitenden sind die Schauspieler, der Hoteldirektor der Regisseur, und die Marketingabteilung schreibt das Drehbuch, das niemand liest. Das Schauspiel beginnt, sobald die automatische Glastür auffährt: Vorhang auf für die große Illusion.
Die Ouvertüre: Check-in
Der Check-in ist das Vorspiel der Hotellerie: Lächeln, Tastaturgeklapper, ein Kugelschreiber, der majestätisch auf das Formular deutet. Der Gast spielt seine Rolle mal als Diva, mal als erschöpfter Geschäftsreisender, mal als Komparse, der nur in Ruhe seine Zimmerkarte will. Ein falscher Ton, ein schlecht trainiertes Lächeln – und die Ouvertüre ist ruiniert. Ein perfekter Check-in hingegen ist wie eine Mozart-Sonate: beschwingt, harmonisch, mit langem Nachhall.

Die Belle Époque: Theater pur
Blicken wir 120 Jahre zurück: Die Grandhotels der Belle Époque waren nichts anderes als Opernhäuser der Gesellschaft. Man ging nicht ins Hotel, man trat auf. Im Ballsaal des Hôtel de Paris in Monte Carlo stolzierten Barone, Gräfinnen und Möchtegern-Industrielle über das Parkett, als hätte man sie für einen Kostümfilm gebucht. Wer nicht gesehen wurde, existierte nicht. So war das.
Cäsar Ritz war der Götterregisseur dieser Epoche. Er erfand nicht das Hotel – er erfand das Gefühl, dass ein Hotelbesuch wichtiger sei als das eigene Leben. Kronleuchter, die heller strahlten als das Ego der Gäste, Kellner, die so diskret waren, dass man sie fast für unsichtbare Statisten hielt, und Tafeln, die wirkten wie ein Bühnenbild von Verdi. Ritz verstand: Gäste wollen keine Betten, sie wollen Applaus.
Auch Johannes Badrutt in St. Moritz inszenierte meisterhaft: Er verwandelte Schnee in eine Theaterkulisse und machte Pelzmäntel zu Kostümen. Der Wintertourismus war kein Zufall – er war eine perfekt gesetzte Regieanweisung.

Moderne Bühnenbilder: Von Instagram bis Rooftop
Heute haben Hotels andere Tricks. Selfie-Spots ersetzen Kronleuchter, Rooftop-Bars mit DJs spielen den Soundtrack zum Sonnenuntergang. Ein Boutique-Hotel in Berlin verkauft «Industrial Chic» mit abblätterndem Putz – natürlich streng kuratiert. Ein Resort auf den Malediven arrangiert Kokosnüsse so exakt am Strand, dass selbst Poseidon denkt, es handle sich um ein Casting.
Das Publikum ist heute Co-Regisseur: Frühstückseier werden auf Instagram gepostet, Cocktails auf TikTok geschwenkt, und die Lobby bekommt ihre Rezension auf Tripadvisor. Noch nie hatte das Theater so viele Kameraleute im Zuschauerraum.
Im Savoy in London applaudierten die Gäste dem ersten elektrischen Aufzug, als wäre es ein Zaubertrick von Houdini. Im Carlton in Cannes laufen Schauspieler jedes Jahr über den roten Teppich, nur um anschließend in der Lobby so zu tun, als seien sie zufällig hier abgestiegen. Und im Palace in Gstaad ist der Aufenthalt kein Urlaub, sondern ein Casting: Wer nicht prominent oder reich genug ist, bekommt höchstens die Rolle des stillen Statisten am Kamin.
Die wahre Komödie spielt aber in den kleinen Gesten. Das Kissen, welches das Housekeeping mit einem finalen Schlag aufplustert, als würde Stanislawski persönlich applaudieren. Die Croissants, die der Zimmerservice so drapiert, dass Cézanne sie hätte malen wollen. Und die Lobby-Düfte, die manchmal eher nach Toilettenreiniger riechen als nach «Zitrusnote frisch».
Natürlich misslingt auch manches Drama: Das «vegane Omelett», das aus Hühnerei besteht. Der Animateur, der Karaoke für Shakespeare hält. Oder der Direktor, der glaubt, dass ein DJ in der Lobby die gleiche Wirkung hat wie ein Streichquartett. Doch wie im echten Theater gilt: Auch ein Fiasko kann ein Erlebnis sein – und oft sogar das bessere Stück.
Applaus, Applaus!
Ja, Hotels sind Theater, Hoteliers Regisseure, Gäste Schauspieler wider Willen. Die wahre Kunst liegt darin, dass die Inszenierung so echt wirkt, dass niemand merkt, dass er mitten in einem Stück spielt. Cäsar Ritz hätte das gewusst – und gelächelt, während er den Applaus kassierte. Vorhang zu! Aber bitte die Minibar noch bezahlen!

Hotels & Theater – ein ungleiches Zwillingspaar
Als mir die Idee zu dieser Kolumne kam (vgl. Text oben), fragte ich mich: Was haben Hotels und Theater eigentlich gemeinsam? Eine Teilantwort auf die Frage haben Sie soeben erhalten, wenn Sie die Kolumne gelesen oder auch nur überflogen haben. Fest steht: Hotels und Theater haben mehr gemeinsam als die meisten Hoteliers und Theaterintendanten jemals zugeben würden.Beide leben von Vorhängen, Pausen, überhöhten Getränkepreisen und der Illusion, dass das Publikum freiwillig gekommen ist. Hier ein paar Gemeinsamkeiten, völlig subjektiv und willkürlich ausgewählt:
Der Vorhang fällt – oder öffnet sich
Im Theater: roter Samtvorhang, Spannung, Applaus. Im Hotel: automatische Glastür, die surrend auffährt. Beides ein Versprechen: Gleich beginnt etwas Großes. Im Theater ein Drama, im Hotel meist die Suche nach der Kreditkarte.
Wie gesagt, schon Cäsar Ritz verstand, dass die Lobby der erste Akt ist. Der Gast betritt nicht einfach ein Gebäude – er tritt auf. Das Glitzern der Kronleuchter war nicht Beleuchtung, es war Rampenlicht.
Die Schauspieler
Im Theater: Hamlet, Gretchen, Mephisto.
Im Hotel: der genervte Geschäftsreisende, die Influencerin mit Selfie-Stick, die Hochzeitsgesellschaft, die glaubt, sie sei die Hauptrolle im Leben aller. Die Mitarbeitenden sind die wahren Charakterdarsteller – der Concierge als allwissender Magier, die Rezeptionistin als geduldige Heldin, und der Kellner als tragikomischer Clown, der mit drei Tellern jongliert.
Das Bühnenbild
Im Theater: Kulissen, die aus Pappe sein dürfen, solange sie echt wirken.
Im Hotel: Lobbydesign von «Minimalismus trifft auf IKEA» bis «Marmor erschlägt den Gast». Beide Orte leben von der Illusion: kein Mensch glaubt wirklich, dass die Palme in der Lobby echt ist – aber man genießt den Schein.
Wie bereits erwähnt, der englische Theateragent, Impresario und Hotelbesitzer Richard D’Oyly Carte ließ im Londoner Savoy Hotel den ersten elektrischen Lift einbauen. Die Gäste klatschten Beifall, waren fasziniert, als wäre es ein Weltwunder. Das war kein technisches Feature – das war Special Effect.
Die Dramaturgie
Im Theater: Exposition, Steigerung, Höhepunkt, Katastrophe.
Im Hotel: Check-in, Zimmerbezug, Streit um die Klimaanlage, Kontroverse um die Minibarrechnung. Die Parallelen sind frappierend. Und wie im Theater gilt: Nicht jeder Akt ist gelungen, aber das Publikum bleibt sitzen – schließlich sind die Tickets bezahlt.
Und manchmal hat selbst der Hoteldirektor Regieprobleme: Ein verpatztes Bankett, ein Stromausfall im Ballsaal oder ein DJ, der die Hochzeitsgesellschaft mit Techno erschreckt. Theaterdonner inklusive.
Die Kritiken
Das Theater hat seine Feuilletonisten, die im Brustton der Überzeugung über Inszenierungen schreiben, die niemand versteht. Das Hotel hat Tripadvisor-Rezensenten, die im Brustton der Empörung über Kopfkissen, WLAN-Geschwindigkeit und Orangensaft-Temperaturen berichten. Beide nehmen sich zu ernst, beide sind unbezahlbar.
Ein Kritiker, der Goethes «Faust» nicht versteht, ist nichts gegen einen Gast, der beim Room-Service nach glutenfreiem Hummer verlangt. Beide Urteile erscheinen am nächsten Morgen schwarz auf weiß – und beide ruinieren Karrieren.
Finale – Applaus!
Hotels und Theater sind zwei Seiten derselben Medaille: Illusion, Inszenierung, Applaus. Im Theater gibt es die Standing Ovations, im Hotel die Sterne-Bewertung. Und während der Intendant vom Kulturministerium träumt, träumt der Hoteldirektor von einer 100-Prozent-Auslastung. Beide sind Künstler – und beide wissen: Am Ende zählt der Beifall.
Hans R. Amrein
Publizist & Gesellschafter