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Kommentar von Hans r. Amrein

Tourismusboom 2024: Wenn das Reisen zur Tortur wird

Ich sitze im «Eurocity» (EC 31099) von Zürich nach München. Der Zug ist komplett überfüllt. Und das an einem ganz normalen Donnerstag, kurz nach 10 Uhr. Im Zug sitzen viele Touristen aus Südostasien und den Golfstaaten. Daneben noch ein paar Schweizer Rentner und Geschäftsleute. Wer im Zug (1. Klasse) konzentriert arbeiten oder lesen will, findet kaum Ruhe, denn der Lärmpegel ist oft unerträglich – die Menschen aus Asien reden am laufenden Band…

Der Speisewagen: ausgebucht. Das Klima im klimatisierten Zug – nach einer Stunde stickig. Der Sitzkomfort: SBB-Standard (eher unbequem, 1.Klasse). Auch wenn die Deutsche Bahn (DB) alles andere als pünktlich fährt und Züge oft ausfallen, das sog. «Rollmaterial» (sprich Ausstattung der EC-Züge) ist top. Oder der «Railjet» der ÖBB, der von Zürich nach Wien und Budapest fährt. Echt komfortabel. Wer ein Businessabteil bucht, verfügt über WLAN und Service am Platz. Selbst die Italiener bieten in ihren Hochleistungszügen (Frecciarossa) Top-Service und breite, bequeme Ledersessel. Liebe SBB, investieren Sie endlich in Sitzkomfort und Internet!

Meine unbequeme Bahnfahrt nach München ist kein Einzelereignis. Kürzlich fuhr ich nach Mailand – das gleiche Bild: volle Züge, wenig Komfort. Oft sind die EC-Züge nach Milano Centrale jetzt schon Tage vor der geplanten Abreise ausgebucht. Oder ich fuhr nach Berlin und Wien. Auch da: volle Züge, Gedränge in den Bahnhöfen, keine freien Taxis, überfüllte Busse und U-Bahnen. Im Februar weilte ich für einen Hotelreport in London. Flug mit British Airways. Es begann bereits im Flughafen Zürich: lange Menschenschlangen vor den Check-in- und Gepäckaufgabeschaltern, das gleiche Szenario bei der Sicherheitskontrolle. In den Museen und Restaurants in London: Touristen, soweit man sehen kann… Wer nicht reserviert, bleibt draussen. Spontane Restaurant- oder gar Bar-Besuche sind kaum mehr möglich.

Das Reisen wird immer mehr zur Tortur oder zum Stressfaktor – sofern man nicht im Privatjet nach London oder München fliegt, einen Privatchauffeur beschäftigt und ausschliesslich in Luxushotels absteigt. Werden Reisequalität und Reisekomfort immer mehr zum Privileg einer reichen Minderheit?

Der Reiseboom hält an, die Mobilität der Menschen in der westlichen Welt nimmt laufend zu, man hat das Gefühl, die halbe Erdbevölkerung sei unterwegs. Eine Art Bestätigung dieser Aussage lieferten vor wenigen Tagen die Konjunkturforscher des BAK-Basel und der ETH Zürich. Die Forscher prognostizieren einen weiteren Rekordsommer 2024. Sie rechnen mit einem Wachstum im Schweizer Tourismus von 2 Prozent – im Vergleich zum Rekordjahr 2023.

Zur Erinnerung: 2023 war das erfolgreichste Jahr in der Geschichte des Schweizer Tourismus (42 Mio. Logiernächte). 2024 soll also noch «besser» werden! Was aber heisst «besser»? Klar, die touristischen Anbieter (Bergbahnen, Airlines, Gastgewerbe) profitieren vom Reiseboom bzw. von der starken Nachfrage. «Freude herrscht», würde Alt-Bundesrat Dölf Ogi sagen. Volle Betten, volle Bahnen, volle Flieger, volle Kassen.

Schön, dass der Tourismus nach der Pandemie wieder auf Touren gekommen ist. Schön, dass Hotels hohe Auslastungen haben – und aufgrund der starken Nachfrage oft auch hohe Preise durchsetzen können. Schön, dass der Konsument bereit ist, viel Geld für Reisen, Ferien und Hotels auszugeben. Schön auch, dass das Reisen nicht mehr das Privileg einer reichen Oberschicht ist. Reisen scheint nun ein Menschenrecht zu sein. Alle sollen reisen können, so der Grundtenor. Nun, das ist die eine Seite der Medaille. Und die andere?

Easy-Jet, TUI, Flixbus, «Kreuzfahrten für jedermann» und Billigferien in der Südtürkei für 499.00 Franken, inklusive Flug, HP und Sekt-Aperitif führen zu dem, was wir «Overtourism» oder Massentourismus nennen (vgl. Text oben). Hinzu kommt die Tatsache, dass der zunehmende Wohlstand in Asien und Südamerika (Beispiel Brasilien) dazu führt, dass Millionen von Menschen reisen und die Welt entdecken können. Fazit: Overtourism. Und die touristische Qualität nimmt ab.

Umwelt- und Klimaforscher, aber auch die Welttourismusorganisation (UNWTO)sind sich einig: Overtourism ist alles andere als nachhaltig. Wenn Massen reisen, ist das nicht klimafreundlich. Keine neue Erkenntnis.

Worin liegt die Lösung? Wie verhindern wir, dass Städte, Berge, Strände, Hotels, Bahnhöfe und Flughäfen von Touristen überrannt werden? Wie schaffen wir einen Tourismus, der nachhaltig, klimafreundlich und sozial verträglich ist? Wie bereits angetönt: Vor 150 Jahren war das Reisen ein Privileg der Reichen und Adeligen. Heute scheint es ein Grundbedürfnis zu sein, das jeder und jede ausleben kann. In den siebziger Jahren war Mallorca die «Insel der High Society», heute sprechen Zyniker von der «Putzfraueninsel». Was ist falsch daran, wenn Putzfrauen reisen und sich Ferien leisten können? In den sechziger Jahren war das Fliegen mit der Swissair eine Art Status Symbol, heute fliegt die «breite Masse» für 80 Franken oder noch weniger nach Barcelona, Ibiza oder in die Türkei. In Fachkreisen spricht man von einer «Demokratisierung des Reisens». Was ist schlecht daran?

Der (überfüllte) «Eurocity» (EC 31099) hat München HB erreicht. Die Bahnreisenden drängen sich durch die engen Korridore, wo sich Gepäck stapelt. Im Hauptbahnhof München das gewohnte Bild: Menschen, soweit das Auge sieht… Menschen mit Gepäck. Menschen auf Reisen. Ich eile zum Taxistand – in der Hoffnung, ein freies Taxi zu finden. Fazit: Kein Taxi. Mindestens vierzig Personen (alle mit Gepäck) stehen am Taxistand und warten…

Bus oder U-Bahn? Wenige Minuten später. U-Bahn-Station beim Hauptbahnhof. Mindestens 200 Personen warten auf die U-Bahn. Sie fährt ein. Die Türen öffnen sich. Dicht gedrängt, wie Sardinen in der Konservenbüchse, stehen die Leute in der Bahn…

Endlich. Ankunft im Hotel in der Innenstadt. Das Hotel als Ort des Rückzugs, als Oase der Ruhe in einer von Touristen belagerten Welt. Dies zum Thema Reiseboom.

Hans R. Amrein
Publizist & Gesellschafter

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