Es war am vergangenen Mittwoch, kurz nach 10 Uhr. Der Bus hielt mitten im Dorf Santa Maria im Münstertal (Val Müstair). Nach knapp sechs Stunden Bahn- und Busfahrt war ich endlich am Ziel. Das Hotel Chasa de Capol liegt direkt an der Dorfstrasse, ein altes Gebäude mit Wurzeln im 12. Jahrhundert. Ein Hotel? Gerade mal fünf Zimmer bietet Hotelier und Gastgeber Ramun Schweizer (Bild oben) seinen Gästen.
Warum weilte ich im Hotel Chasa de Capol am «Ende der Welt»? Kurz: 25 Studierende der EHL (Campus Passugg) haben die spannende Aufgabe, einen Businessplan für das historische Hotel im fernen Münstertal zu verfassen. Es geht um die Frage: Was braucht es, um das kleine 5-Zimmerhotel mit Restaurant, Bar, Smokers Lounge, Theatersaal und eigenem Wein (aus Südtirol) noch attraktiver zu machen, so dass mehr Gäste hier absteigen?
Ich spreche mit Ramun Schweizer. Er besitzt das alte Ritterhaus und führt es seit knapp 26 Jahren. Vor mir steht ein älterer Herr. Er trägt Krawatte und dazu eine Art Windjacke. Graues Haar, blaue, leuchtende Augen. Ramun Schweizer ist der Sohn des 2021 verstorbenen Dirigenten, Musikers und Hoteliers Ernst Theodor Amadeus Schweizer. Ich spüre sofort: Ramun lebt für sein Ritterhaus. Das kleine Hotel ist sein Leben, sein Lebenswerk. Er trat das Erbe seines Vaters bereits 1997 an, nachdem er die Hotelfachschule Luzern (SHL) besucht hatte.
Ich will wissen: Was steckt hinter der Geschichte des alten Ritterhauses? Wie kommt ein Operndirigent und Musiker aus Basel dazu, ein verfallenes, 800-jähriges Haus zu kaufen und als Hotel zu betreiben?
Die Geschichte des altes Ritterhauses ist schlicht einzigartig – und die Geschichte der Familie Schweizer ebenso. Ramun Schweizer erinnert sich – bei einer Zigarre auf dem Balkon – an seine Kindheit: «Ich wuchs in Venedig auf, denn mein Vater war hier Dirigent an der Oper. Die Wintermonate verbrachten wir in Venedig, die Sommermonate in der Chasa de Capol im Val Müstair.» Sein Vater war gleichzeitig Dirigent und Hotelier. Man stelle sich vor: Der Mann stand am Pult der Oper von Venedig und dirigierte Verdi, Puccini oder Rossini – und wenige Monate später stand er als Hotelier im alten Ritterhaus – und dirigierte seine Gäste…
Ich will wissen, was hinter den Fassaden des historischen Hauses steckt. Und siehe da: Die Geschichte der Chasa de Capol geht auf das 12. Jahrhundert zurück, aber erst seit 1962 wird es als Hotel genutzt. Ernst Theophil Amadeus Schweizer (1932 bis 2021) kaufte den Komplex im Jahr 1955. Der in Basel geborene Musiker war, wie gesagt, Dirigent in Venedig und fand im Münstertal zwischen Basel und Venedig eine neue Heimat.
Ab 1955 renovierte er das baufällige Ritterhaus stilecht und beherbergte ab 1962 berühmte Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kunst, Film und Musik, darunter der deutsche Bundespräsident Theodor Heuss, Bundeskanzler Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und viele andere Regierungsmitglieder, aber auch Charly Chaplin, Herbert von Karajan, Albert Hofmann, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und andere Berühmtheiten gehörten zu den Gästen.
Vater und Sohn haben das Hotel mit großem Respekt vor seiner jahrhundertealten Geschichte und Kultur renoviert und umgestaltet. Es handelt sich zwar um eine Art Hotel, man fühlt sich darin jedoch beinahe in einem Museum, selbst die Küche mit Ramun als Chefkoch basiert auf dem klassischen Holzofen, Kupferpfannen und regionalen Rezepten.
Die jahrhundertealte Kapelle, die mittelalterlichen Mauern, die gotischen Gewölbe, der Kamin im Salon, die separate, authentische mittelalterliche Küche mit Kaminofen, Kutschen und ein Oldtimer aus dem Jahr 1934 (ein schwarzer Citroën Traction Avant), der als Speisesaal dienende Rittersaal, die als Frühstücksraum genutzte Wohnstube, der Fondue-Raum, fünf authentisch eingerichtete Zimmer (mit Wifi, ohne Fernseher), die venezianische Marco-Polo-Bar, die Davidoff Cigar Lounge und verschiedene andere Aufenthaltsbereiche schaffen eine einzigartige Atmosphäre.
Das Theater im Dachstock und der alte Steinway-Flügel im obersten Stockwerk sind Highlights, wie man sie in keinem anderen Hotel findet. Das Theater wird immer noch für Konzerte und andere Veranstaltungen genutzt. Instrumente, Masken und Requisiten aus Venedig verweisen auf den Musiker und Dirigenten Schweizer. Natürlich haben auch Basel und die Basler Fasnacht einen besonderen Platz im Ritterhaus.
Nun, die Anfänge des Komplexes gehen auf das Jahr 1199 zurück. Die aus Venedig stammende Dynastie Polo liess sich in Santa Maria nieder und wohnte dort bis 1839. Das Haus ist nach Ca-Pol, oder Hausmacht der Polo, benannt. Dieses Geschlecht bekleidete Ämter in der Republik Venedig, im Bistum Chur und bei den Habsburgern und war auch wirtschaftlich in der Region aktiv, unter anderem für das Kloster St. Johann (Claustra Son Jon) in Müstair.
Nach der Eroberung des Veltlins, von Bormio und Chiavenna im Jahr 1512 durch die drei Bünde waren die Mitglieder der Dynastie Vogte (Podestà) im Veltlin. Die Dynastie blieb während der Reformation katholisch. Die Augustinermönche hatten sogar ein Hospiz (wegen der Lage am Umbrailpass) und ein Refektorium im östlichen Anbau des Komplexes und nutzten die Hauskapelle.
Kaiser Friedrich von Habsburg erhob die Dynastie 1481 zu den Grafen von Capol. Im Jahr 1506 hielt sich Kaiser Maximilian im Ritterhaus auf. Nach dem Aussterben der Dynastie (im Jahr 1839) stand der Komplex bis 1955 leer.
Ab 1955 erwachte das Ritterhaus Chasa de Capol zu neuem Leben. Die kosmopolitische und kulturelle Atmosphäre sowie der Geist der Capols, des Val Müstair des Handels, der Mönche, der Säumer (auf dem Weg von und nach Tirol über den Umbrailpass), der Kaiser, der Grafen, der Ritter und anderer Würdenträger ist in einem authentischen, venezianischen Dekor noch immer präsent.
Im Jahr 2000 wurde dem Ritterhaus sogar eine weitere ritterliche Ehre zuteil: In diesem Jahr wurde Ernst Theophil Schweizer zum Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem geschlagen. Die Anfänge dieses Ordens gehen auf das Jahr 1099 zurück, ein Jahrhundert vor dem Bau des Ritterhauses. Heute gibt es weltweit etwa 30 000 Ritter dieses Ordens. Die facettenreiche Persönlichkeit Ernst Theophil Schweizer – Musiker aus Basel, Dirigent in Venedig, Hotelier im Bündnerland – ist und bleibt wohl eine einmalige Erscheinung in diesem Orden.
Ich bin gespannt, was die Studierenden der EHL aus dem historischen Haus machen werden. Ich begleite sie als Dozent und Coach, vor allen, wenn es um die strategische Positionierung geht.
Apropos Positionierung: Eigentlich ist die Chasa de Capol bereits jetzt hervorragend positioniert. Geschichte, Abenteuer, Erlebnisse, Anekdoten – alles ist vorhanden, einzigartig und nicht kopierbar.
Ich ziehe den Hut vor Ramun Schweizer, dem Idealisten und Hotelier, der hier sein Erbe mit Herzblut und totalem Engagement erlebbar macht. Wenn Sie, liebe Hotelinsiderinnen und Hotelinsider, eine wirklich authentische, einzigartige Hotelgeschichte erleben möchten, dann gibt es nur eines: Fahren Sie ins ferne Münstertal. Schauen Sie sich die Chasa de Capol an. Und Sie erleben Storytelling pur!
Hans R. Amrein
Publizist & Gesellschafter











