Wenn ich auf die ersten Monate des laufenden Jahres zurückblicke, stelle ich einmal mehr fest: Wir stehen im Schweizer Hotelgewerbe am Anfang einer tiefgreifenden Transformationsphase. Nur haben das viele Hoteliers, Touristiker und Verbandsexponenten noch nicht erkannt. Es herrscht nach wie vor das (zu) optimistisch anmutende Motto: Uns geht es hervorragend. Die Nachfrage ist – aufgrund des weltweiten Reisebooms – hoch. Wir «tummeln» von einem Rekordjahr zum nächsten…
Richtig! Es bahnt sich 2024 ein neuer Logiernächte-Rekord an. Vor wenigen Tagen hat das Bundesamt für Statistik (BFS) die jüngsten Tourismuszahlen fürs erste Halbjahr 2024 und die Sommermonate veröffentlicht. Und siehe da: Die Zahl der Übernachtungen in Schweizer Hotels war nach sieben Monaten so hoch wie noch nie. Es kommen wieder mehr ausländische Gäste, vor allem reiche Amerikaner. Die Branche bewege sich weiterhin auf Rekordniveau, betonen die Bundesstatistiker, dies liege nicht zuletzt daran, dass die Schweizerinnen und Schweizer «nach wie vor deutlich mehr Ferien in der Schweiz verbringen als vor der Pandemie». In Zahlen ausgedrückt: plus 15 Prozent mehr Schweizer Logiernächte als 2019.
Zur Erinnerung: 2023 war das beste Jahr in der Schweizer Tourismusgeschichte: mit 41,8 Millionen Logiernächten wurde die 40-Millionen-Marke erstmals überschritten. 2024 sollen es, so die Prognosen, gegen 43 Millionen sein…
«Freude herrscht», würde Alt-Bundesrat Adolf Ogi jubeln. Was wollen wir mehr! Die Tourismusmaschine läuft, die Branche verdient gutes Geld. Volle Betten, satte Renditen. Den Hotels in der Schweiz ging es in den letzten zwei Jahren so gut wie noch nie.
Natürlich profitieren nicht alle vom Reiseboom. Der verregnete Frühling und Frühsommer sorgte im Tessin, der «Sonnenstube der Nation», für Minus-Zahlen bei den Übernachtungen, aber auch beim RevPar. Trotz «gutem August» (Ticino Tourismus) werden die Tessiner Hotels den Rückstand bis Saisonende (Oktober) nicht mehr aufholen können.
Was haben all die positiven Logiernächte- und Gästezahlen (sprich Rekorde) mit dem anfänglich erwähnten tiefgreifenden Transformationsprozess zu tun? Im ersten Moment nichts. Wer hingegen mit Tourismus- und Hospitality-Experten spricht (das tue ich fast täglich) und die jüngsten Fakten und Trends in der Hospitality-Branche berücksichtigt, stellt fest: Trotz Reiseboom und Rekordzahlen wird sich der Markt der Beherbergung schon bald grundlegend verändern, denn seit gut zwei Jahren expandieren fast alle global aktiven Hotelgruppen in die Schweiz. Viele sind schon da (Accor, Marriott & Co.) und besitzen in Städten wie Zürich, Genf oder Basel Markanteile von über 20 oder gar 30 Prozent – in Basel verfügt allein Accor über einen Marktanteil von knapp 40 Prozent!
Noch 2019, vor der Pandemie, lag der Marktanteil der Hotelketten in der Schweiz bei 8 Prozent, heute (September 2024) sind es immerhin schon 10 Prozent. Mit anderen Worten: 10 Prozent der rund 4200 Schweizer Hotels werden von Accor, Marriott & Co. geführt. Das tönt im ersten Moment eher bescheiden, aber bis in fünf Jahren (2029) wird die internationale Marken- oder Kettenhotellerie in der Schweiz einen Marktanteil von 25 bis 30 Prozent besitzen. Diese Prognose basiert auf den aktuellen Pipelines (geplante Hoteleröffnungen) der grössten Hotelkonzerne.
Kurz und gut: Hotelkonzerne wie Accor, Marriott, Hilton, Hyatt, Best Western & Co. erobern die Schweizer Hotellerie. Hinzu kommen international tätige Hotelbetreiber wie die HR-Group (HRG) aus Berlin. Sie sehen in der Schweiz, so wie die grossen Hotelkonzerne, «enormes Wachstumspotenzial», so HR-Group-Inhaber Ruslan Husry gegenüber Hotel Inside. Die HR-Group führt derzeit über 200 Hotels unter 28 diversen Marken. In der Schweiz werden aktuell acht Hotels von HRG-Managern geführt (z.B. Mövenpick Hotels).
Wer nun glaubt, Accor, Marriott & Co. würden vor allem (so wie bisher) in Grossstädten wie Zürich, Basel oder Genf weitere Hotels eröffnen, irrt sich. In Zürich, Basel oder Genf sind die Ketten längst präsent, oft mit mehreren Marken (Beispiel Accor in Zürich). Die globalen Hotelgruppen haben jetzt B- und C-Destinationen im Visier, kleinere Städte wie Aarau, Bern, Solothurn oder Lugano.
Im Herbst 2018 stellte ich im Rahmen einer Podiumsdiskussion den Entwicklungschefs von Motel One, Ibis und 25hours Hotels die Frage: Wann eröffnen Sie die ersten Hotels im Berggebiet? Antwort von Bruno Marti (Entwicklungschef bei 25hours Hotels): «Wir fokussieren uns ganz klar auf die Städte.» 25hours in den Bergen? «Nein, das ist für uns kein Thema.» Allein aufgrund der Saisonalität im Berggebiet könne er sich ein 25hours-Hotel in Zermatt, Davos oder Grindelwald nicht vorstellen, so Marti. Auch für die stark expandierende Budget-Lifestyle-Marke Motel One waren die Berge bis vor Covid kein Thema.
Und jetzt, fünf Jahre später, sieht die «Hotelwelt» völlig anders aus. Seit dem Ende der Pandemie (Frühjahr 2022) setzen alle globalen Hotelketten und Hotelbetreiber aufs sogenannte Leisure- oder Freizeitsegment. Accor, Marriott, Dorint, Hilton, Hyatt & Co. haben ihre Wachstumsstrategien angepasst – mit dem Ziel, Hotels vermehrt auch im Berggebiet und in sogenannten B- und C-Destinationen zu eröffnen.
Fazit: Die Expansion der Marken- oder Kettenhotellerie führt nicht nur in den Städten, sondern auch im Berggebiet, bzw. in Leisure-Destinationen zu einem tiefgreifenden Strukturwandel. Denn Marken wie Marriott, Accor oder Hilton werden – aufgrund ihrer globalen Vernetzung und einer hochprofessionellen Dienstleistungsinfrastruktur – die Hotelangebote in Leisure-Destinationen beeinflussen, wenn nicht gar beherrschen. Beispiele im nahen Ausland zeigen deutlich, was Hotelketten in Tourismusorten bewegen können – das reicht vom weltweiten Vertrieb und der digitalen Guest Journey bis hin zum Revenue Management (sprich Ratenpolitik).
Quizfrage: Was wären die Folgen für den lokalen Hotelmarkt, wenn Hilton in Mürren oder Arosa ein 150-Zimmerhotel eröffnet? Daneben entsteht vielleicht noch ein Budget-Lifestyle-Hotel von «Revier» mit 100 bis 120 Zimmern und Apartments…
Die Antwort liegt auf der Hand: Kleine, privat geführte Hotelbetriebe geraten unter Druck – vor allem, wenn es um die Ratenpolitik geht. Motto: Die Grossen diktieren den Preis. Allerdings: Solange der weltweite Reiseboom für volle Betten sorgt, werden auch die Kleinen einigermassen gut leben können – vor allem in touristischen Hotspots wie Grindelwald oder Zermatt. Aber was, wenn die Nachfrage eines Tages sinkt?
Und noch etwas: Die globalen Hotelkonzerne sind den privat geführten Einzelhotelels weit voraus, wenn es um digitale Angebote, KI, Prozesse, Vermarktung und Revenue Management geht. Kürzlich hat mir ein prominenter Schweizer Hotelmanager der Radisson Hotel Group erklärt: «Wenn ich mir kleine und privat geführte Hotels mit 30 bis 50 Zimmern anschaue, traue ich meinen Augen nicht. Die leben noch in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts, was Digitalisierung, KI und professionelles Marketing betrifft.» Natürlich gibt es Ausnahmen – kleine oder mittlere Drei- und Vier-Sternehäuser, die digital hervorragend aufgestellt und klar positioniert sind.
Der erwähnte Radisson-Manager kommt zum Schluss: «Privat geführte Einzelhotels haben eigentlich nur zwei Optionen: Sie positionieren sich in der Nische und heben sich damit deutlich von ihren Mitbewerbern und den Hotelketten ab. Oder sie schliessen sich einer grossen Hotelmarke an und profitieren vom globalen Know-how der Marke.»
So viel zum tiefgreifenden Transformationsprozess in der Schweizer Hotellerie.
Hans R. Amrein
Publizist & Gesellschafter